Eine Männer- und eine Frauenhand berühren sich in einer halbnahen Kameraeinstellung

Einstellungsgröße: Halbnahe und Nahe – Emotion und Erklärung

Wovon reden wir denn, wenn wir von Halbnahen, Nahen, Close Ups und Makroaufnahmen sprechen? Die Einstellungsgrößen „Halbnahe“ und „Nahe“ sind jene Einstellungsgrößen, die in Filmen und Videos auftauchen, wenn es ans Eingemachte geht. Wenn es um tiefere Einblicke geht als eine Halbtotale das liefern kann und Details von Abläufen genau und verständlich erklärt werden sollen.

Inhaltsverzeichnis

Was soll das eigentlich?, fragst du dich! Schreibt der hier für einen Grundkurs „Videofilmen für Dummies“? In drei Blogartikeln erklärt er ausführlichst die „Einstellungsgrößen Halbnahe und Nahe“, „Totale“ und „Halbtotale“, die doch ohnehin jede und jeder, der/die eine Kamera in die Hand nimmt, ganz automatisch anwendet.

Ja, eh! OK! Aber pass‘ kurz auf: ich kenne aus eigener Erfahrung Situationen, in denen man erst im Nachhinein zum Nachdenken kommt. Und dann ist es zu spät. Dazu eine kleine wahre Geschichte:

Vor ein paar Jahren, damals eigentlich schon ein einigermaßen erfahrener Filmemacher, bin ich in der Wüste in Mali einem Tuareg-Silberschmied begegnet, der mit einfachsten Mitteln Silberschmuck geschmiedet hat. Fasziniert von der Feinheit der Arbeiten hat sich meine damalige Partnerin von ihm einen Silberring schmieden lassen. Ich habe spontan den ganzen faszinierenden Prozess, vom Kauf der Silbermünzen auf einem Markt als Ausgangsmaterial über das Schmelzen, Gießen und Schmieden bis zum fertigen Ring, mit Video (damals noch 4:3) dokumentiert.
Als ich das Ergebnis einer Bekannten aus der Branche gezeigt habe, war ihr nüchterner Kommentar: „Mir fehlen die Totalen!“. Was sie damit gemeint hat, ist die Tatsache, dass ich dem Kontext, also den Umständen der mehrstündigen Prozedur nicht den nötigen Raum gegeben habe. Ich habe mich von der Faszination der Handlung in den Bann ziehen lassen und alles im Wortsinn „haarklein“ dokumentiert. Eine Versuchung, der Kameraleute mit und ohne Regieerfahrung manchmal erliegen. Das Video selbst kann man sich auf meiner Vimeo-Seite unter der URL https://vimeo.com/19565488 ansehen.

Darum bin ich aus bitterer eigener Erfahrung sehr akribisch geworden, was das Nachdenken über die Bedeutungen von Einstellungsformaten und Bildaufbau anbelangt. Sie können nämlich die Rezeption von Videos ganz wesentlich beeinflussen.

Einstellungsgrößen Halbnahe und Nahe

Ihren Ursprung haben die halbnahen und nahen Einstellungen in den Anfängen des Kinos. Anfangs waren es ja ausschließlich Totale, mit denen auf einer Guckkastenbühne Szenen wie im Theater abgefilmt wurden. Um Emotionen zu transportieren mussten im Stummfilm daher nicht nur übergroße Gesten und übertriebene Mimik eingesetzt werden, sondern mit fortschreitender Entwicklung des Mediums auch Teilaufnahmen des Körpers, bevorzugter Weise des Gesichts.

Dass aufgrund des Anblicks „halber Menschen“ oder „sprechender Köpfe“ Frauen im Kino in Ohnmacht gefallen sein sollen, ist wahrscheinlich genauso gut erfunden wie die Geschichte, dass man schwangeren Frauen vom Besuch der Ausstellungen französischer Impressionisten abgeraten habe, damit das Ungeborene keinen Schaden erleide.

Zugegeben: es war für die damaligen Sehgewohnheiten neu und ungewohnt, die Gewöhnung daran hat sich, wie wir wissen, schnell eingestellt.

Halbnahe Aufnahme in Schwarzweiß eines Vampirs, der sich anschickt, sein Opfer zu beißen.
Schrecklich anzusehen, aber nicht deswegen, weil ein "halber Mensch" zu sehen ist, sondern weil es sich um einen der ersten Horrorfilme der Filmgeschichte handelt. "Nosferatu" von Friedrich Wilhelm Murnau, 1921/22. ©kino achteinhalb, Bildzitat gem. §42 Urh.G.

Einstellungsgröße Halbnahe - dichte Atmosphäre

Ein Hund unter einem Tisch knurrt einen Fischkopf in einer Tasche an.
Die Halbnahe als Einengung des Schauplatzes, in dem sich eine skurrile Begegnung zwischen dem angeketteten Hund und einem toten Fisch mit bizarrem Gebiss aufschaukelt. Screenshot aus "Mon Oncle", Jacques Tati, 1958. Bildzitat gem. §42 Urh.G.

Wie schon der Name sagt, ist die Einstellungsgröße „Halbnahe“ ein Framing, das zwischen Halbtotale und Nahe liegt. Natürlich abhängig von den generellen Gegebenheiten durch den Ort der Handlung und räumliche Größenordnungen. Im Fachjargon sprechen wir vom „Verdichten einer Einstellung“, wenn wir näher rangehen. Die Halbnahe _verdichtet_ also die Szene. Das kann einerseits bedeuten, dass – je nach Handlung – der Spielraum innerhalb der Situation geringer wird und sich möglicherweise sogar Anklänge an Klaustrophobie ergeben können. Denken wir etwa an Dinge wie „Blickluft“ beim Framing von Personen und Gesichtern.

Für schräge Situationskomik sorgen „Halbnahe“ in Filmen von Jacques Tati, der ansonsten überwiegend mit bis ins kleinste Detail durchkomponierten Totalen und Halbtotalen arbeitet. https://youtu.be/ooDnlVj7QvM?feature=shared

Andererseits kann das Einengen des Bildausschnitts auf bestimmte Handlungen oder Umgebungsdetails die Atmosphäre unterstreichen und auf der bildlichen Ebene zusätzliche Informationen zum Verständnis und zur Einordnung der Umstände liefern. Denken wir dabei an die legendären „Liebesg‘schichten und Heiratssachen“ ursprünglich von Elisabeth T.Spira im ORF. Der Blick auf Deko und Einrichtungsdetails bei dieser Proto-Castingshow in Sachen Liebe liefert einen beredten Meta-Text zum explizit Gesagten.

https://tv.orf.at/liebesgschichten-und-heiratssachen/index.html

Eine alte Straßenlaterne im Regen
Hat streng genommen mit der Handlung nichts zu tun, beschreibt aber wiederkehrend den Schauplatz der Handlung die Umstände und die Atmosphäre. ©Mubi, "In the Mood for Love" Wong Kar Wei, 2000, Screenshot, Bildzitat gam. § 42 Urh.G.

Meisterlich wird die Halbnahe von Wong Kar Wei in seinem Film „In the mood for Love“ eingesetzt. Nicht nur die diskreten Gesten zwischen den beiden Hauptdarstellern werden in verdichteten Bildern gezeigt. Auch Einstellungen, die streng genommen nichts mit der Handlung zu tun haben, wie Zigarettenrauch oder eine Straßenlaterne im Regen schaffen Zeit, die Stimmung, die der gesamte Film vermittelt, vertieft wirken zu lassen

https://www.youtube.com/watch?v=m8GuedsQnWQ

Eine Frauenhand stützt sich in einer halbnahen Einstellung neben einem Telefon auf
Alleine das textlose dreimalige Läuten lassen des Telefons schafft Zeit und Assoziationsraum für die dargestellten Gefühle der Sehnsucht und Unsicherheit. Screenshot aus "In the Mood for Love", Wong Kar Wei, 2000. Bildzitat gem. §42 Urh.G.

Einstellungsgrößen Halbnahe und Nahe - Beziehung entstehen und wachsen lassen

Das Framing der Halbnahen lässt es zu, zwei Menschen gleichzeitig im Bild zu zeigen. Was liegt also näher, mit Halbnahen die Entwicklung einer Beziehung zu erzählen. So etwa wie in Richard Linklaters in Wien spielenden Film „Before Sunrise“. Die überwiegenden Halbnahen zeigen Jesse und Celine durch die Straßen von Wien flanieren und offenbaren ihre Gefühle, ihre Unsicherheiten und ihre wachsende Verbindung.

Ein junges Paar in einer Stadt blickt sich im Morgenlicht in die Augen
Die Halbnahe kann zwei Personen in einem Bild zeigen. Sie ist daher besonders geeignet, das Enstehen und das Entwickeln einer Beziehung zu begleiten und darzustellen wie hier in einem Filmstill aus Richard Linklaters "Before Sunrise", 1995. Bildzitat gem. §42 Urh.G.

Grandios gebaut auch der programmatische Rhythmus zwischen Halbnahen und Nahen im Film „The Imitation Game“ mit Benedict Cumberbatch als Alan Turing, der die Entschlüsselung der deutschen Enigma Chiffriermaschine zum Inhalt hat. Die Nahen offenbaren die Mechanik, während die Halbnahen seine Konzentration und den Erfolgsdruck, unter dem Turing stand, darstellen.

Eine Handlungsstrang des Streifens „The Social Network“ von David Fincher, der sich an die Entstehungsgeschichte von Facebook anlehnt, behandelt die Ruder-Tradition von Harvard (analog der Ruder-Rivalität Oxford vs. Cambridge in England). Dabei zitiert das Trommeln auf dem Laptop den Ruderschlag des Achters beim Training. Beides jeweils in Großaufnahme. Eine emotional aufgeladene Gleichsetzung mit dem Hintergrund von Leistung, Wettbewerb und Erfolgsdruck.

Großmeister Ingmar Bergmann setzt im Schwarzweiß-Streifen „Persona“ die Einstellungsgrößen Halbnahe und Nahe ein um die Verschmelzung zweier Charaktere zu zeigen. Ein Stilmittel, das Ingmar Bergmann bei einigen seiner psychologisierenden Filme eingesetzt hat.

Sehr dunkles halbnahes Bild von zwei Frauengesichtern, von denen eine Frau den Kopf der anderen hält
In seinem Meisterwerk "Persona" aus 1966 setzt Ingmar Bergmann Elemente des Experimentalfilms ein. Darunter Halbnahe und Nahe der beiden Protagonistinnen und beschreibt damit das Verschmelzen der Persönlichkeiten der Charaktere. Screenshot, Bildzitat gem. §42 Urh.G.

Einstellungsgröße Nahe - Blick hinter die Fassade

Wenn wir einen Schritt näher – in die Einstellung „Nahe“ gehen, führen uns die Bilder näher an das Subjekt heran. Grundsätzlich einmal egal ob unbelebte Materie oder Mensch.

Natürlich sind Nahe und „Ganz Nahe“ (Close Up) am menschlichen Subjekt am wirkungsvollsten. Sie zeigen feine und feinste Regungen. Unsicherheit, Erregung, Trauer, Angst, Entsetzen, Erstaunen, Überraschung. Die gesamte Palette menschlicher Emotionen kommt überlebensgroß auf die Leinwand oder den Bildschirm. Unnötig zu erwähnen, dass die Monstrosität der Bildausschnitte auf der großen Leinwand schon alleine durch ihre Größe beeindrucken und eine emotionale Reaktion im Publikum auslösen.
Die Verlockungen der „Nahen“ habe ich in meinem Eingangsstatement zu diesem Blogartikel schon angedeutet. Natürlich ist das „nahe dran Sein“ eine Qualität für sich, die in der Praxis aber nicht überstrapaziert werden sollte. (Siehe Blogartikel) Dein Publikum braucht – sofern du nicht einen Horrorfilm drehen willst (und sogar auch dort) – hin und wieder eine visuelle Verschnaufpause, Orientierung, ein paar Sekunden um die Eindrücke zu „verdauen“.

Ein angstverzerrtes Gesicht in der Dunkelheit, Nahaufnahme, einseitig beleuchtet, unvollständig abgebildet
Unterschreitung der Intimdistanz. Wir sind der Darstellerin näher als wir das im realen Leben zulassen würden. Ein Gefühl des Unwohlseins und die gespielte Angst der Darstellerin übertragen sich auf das Publikum. Screenshot aus "The Blair Witch Project" D.Myrick & E.Sánchez, 1999 ©Everett Coll, Bildzitat gem. §42 Urh.G.

Dazu kommt eine Unterschreitung der Intimdistanz, die je nach kulturellem Kontext als unangenehm empfunden wird. Wir Mitteleuropäer:innen empfinden eine Distanz zwischen Fremden von etwa einer guten Armlänge als komfortabel. Alles, was näher ist, sorgt im Normalfall für Unbehagen. Selbst bei starker Identifizierung mit Filmcharakteren führt eine zu intensive Nähe zu Beunruhigung, zu einem Anstieg der Herzfrequenz und zu einer Ausschüttung von Adrenalin. Das kann im Suspense-Bereich gezielt eingesetzt werden, ebenso in Romanzen – wobei hier meist negative Konnotationen getilgt werden, führt aber auf die Dauer auch zu einer Überreizung und Unbehagen.

Ein Beispiel dafür ist in „Darwins Nightmare“ von Hubert Sauper die wiederkehrende sehr nahe Einstellung jener Prostituierten, die im späteren Filmverlauf ermordet wird. https://youtu.be/Sas_Gac1a9o . In einer dieser Einstellungen erzählt sie vom Waffenschmuggel in den Flugzeugen, die den Fisch aus Ostafrika in die ganze Welt verfrachten.

Emblematisch: die Großaufnahmen von Marlon Brando in der Mario-Puzo-Verfilmung „Der Pate“ (The Godfather). Die Nähe und der Blick auf die feinsten Regungen in der Mimik des Darstellers transportieren die Gefährlichkeit des Charakters hinter der scheinbar unbeweglichen Fassade und wirken so auf das emotionale Kostüm des Publikums.

Der angsterfüllte Blick einer Astronautin durch ein halb beschlagenes Visier eines Astronautenhelms gesehen.
Existenzielle Angst und Panik spiegeln sich im Gesicht von Sandra Bullock, als sie nach einem Unfall bei einem Raumspaziergang den Kontakt zum Mutterschiff verliert. Screenshot aus "Gravity", Alfonso Guarón, 2013, ©Warner Pictures, Bildzitat gem. §42 Urh.G.

Einstellungsgröße Nahe und Großaufnahme - pure Emotion

Angst, ja Panik in den Augen von Darsteller:innen sorgen für entsprechende Reaktionen bei den Betrachter:innen und sind – dosiert eingesetzt – ein Mittel um Spannung zu generieren. Besonders effektvoll eingesetzt im berühmten „Blair Witch Project“ aus 1999, das vorgeblich aus „found footage“ aus den Kameras vermisster Filmstudenten stammt, die eine Dokumentation über die Hexe von Blair drehen wollen und im Zug der Dreharbeiten verschwinden

Großaufnahme schwarzweiß einer schreienden Frau in einer Dusche
Screenshot aus "Psycho", Alfred Hitchcock, 1960. Das Bild transportiert Entsetzen und Todesangst und wurde zu einem ikonischen Bild für Hitchcock Krimis. Es heißt, dass nach dem Kinostart des Films in de USA viele Frauen Angst hatten, zu duschen. Diese Aussage kann allerdings nicht unabhängig belegt werden. Bildzitat gem. §42 Urh.G

In „Gravity“ mit Sandra Bullock und George Clooney sind die Zuschauer:innen immer wieder mit dem existenziell panischen Blick Sandra Bullocks durch das Visier ihres Astronautenhelms konfrontiert, wenn sie, ohne Halt und losgelöst vom havarierten Raumschiff, ins unendliche All zu driften droht. Suspense im Zeitalter von CGI. Wohingegen Altmeister Alfred Hitchcock seine Version von Suspense in seinen Werken mit rein analogen Mitteln umsetzt. Legendär: der Mord in der Dusche aus „Psycho“.

Und neben dem filmhandwerklichen Mittel des Suspense ist die Nahe auch ein sehr praktisches Stilmittel um Druck auf die Tränendrüsen auszuüben, was ja zu den essentiellen Erfahrungen im Kino beinahe verpflichtend dazu gehört. Nicht lachen! Das können wir uns auch bei trivialen Produkt- oder Gebrauchsvideos zunutze machen. Ein wunderbares Beispiel dazu liefert der pathetische Abgesang des Frank’n’Furter in Richard O’Briens „Rocky Horror Picture Show“ https://www.youtube.com/watch?v=mjHksjW4XQk

Nahaufnahme einer stark geschminkten, weinenden Person, deren Schminke stark verwischt ist.
Die Nahe als Transporteur von Emotion. Nicht nur Angst, sondern auch Wehmut, Trauer und Pathos werden durch Nahaufnahmen gezeigt und bewirken mitunter einen Druck auf die Tränendrüsen. "Rocky Horror Picture Show", Richard O'Brien, 1975, Screenshot, Bildzitat gem. §42 Urh.G.

Einstellungsgröße Großaufnahme - Herausforderung und Genuss

Was wären schließlich Produktvideo oder technische Videos von Reparatur-Tutorials bis zu Bastelanleitungen ohne Großaufnahmen. Sie sind unabdingbare Voraussetzung für verständliche filmische Kommunikation in diesem Anwendungsbereich. Eine besondere Herausforderung dabei ist die Vermeidung von Achsensprüngen (siehe: Blogartikel ). Oft sind bei technischen Abläufen die Raumverhältnisse so, dass Details von verschiedenen Richtungen erfasst werden müssen. Vergisst man bei den Dreharbeiten auf ein neutrales Bild, mit dem man „über die Achse“ gehen kann, führt das höchstwahrscheinlich zu einer Irritation oder einer Missinterpretation des Gezeigten. Das bedeutet, im Vorhinein möglichst alle Abläufe und die dazugehörigen Kamera-Einstellungen durchzuspielen. Umso wichtiger ist diese Vorgangsweise bei Handlungsabläufen, die nicht oder nur mit großem Zeitaufwand wiederholt werden können.

Weil der Mensch auch mit den Augen isst, wären die zahllosen Koch-Shows und Küchenfilme ohne Großaufnahmen völlig reizlos. Einerseits sind sie notwendig, wenn handwerkliche Tätigkeiten gezeigt und erklärt werden sollen. Andererseits löst alleine der visuelle Reiz synästhetische Reaktionen bei den Betrachter:innen aus. Klartext: Speichelfluss setzt ein und schon durch’s Zuschauen hat das Publikum den Eindruck auch geschmacklich an den sinnlichen Freuden des Kochens und des Essens teilzuhaben. Dasselbe gilt für Kochbücher, deren Erfolg zum weitaus überwiegenden Teil von der Fotografie und deren visueller Aufbereitung abhängt.

Ich habe mehr als zehn Jahre lang Serien zu kulinarischen Themen gestaltet, habe bei berühmten Food-Fotografen hospitiert und die Kamerafrau meines Vertrauens hat damals eine ästhetische Bildsprache entwickelt, mit der wir im Verbund sehr erfolgreich unterwegs waren.

Ich habe dabei allerdings endlos gelitten. Denn Drehzeit ist kostbar, der Zeitdruck hoch und die Köche, mit denen wir gedreht haben sind nervös und ungeduldig. Gute (Groß-)Aufnahmen brauchen aber Zeit und vor allem ausgezeichnetes Licht. Bei schlechtem Licht sieht alles aus wie verdorbene Pampe. Es war also immer ein Wettlauf zwischen dem Zeiger der Uhr und den Bemühungen, die optimalen Rahmenbedingungen für hervorragende Aufnahmen zu schaffen.

Eine Frau schneidet mit einem großen Messer Zwiebel auf einem Schneidbrett.
Kein Kochvideo ohne Großaufnahme. Schon alleine der Anblick von würzigen Speisen kann Geschmackshalluzinationen auslösen. ©Merkur

Sonderfall Makroaufnahmen

Ein Stück fetter Speck wird in Grpoßaufnahme geschnitten
Die Ästhetik einer sehr nahen Großaufnahme entsteht durch eine extrem seichte Tiefenschärfe. Screenshot aus "Eat Drink Man Woman", Ang Li, 1994, Bildzitat gem. §42 UrhG

Wenn Speichelfluss einsetzt, dann sind die Bilder gelungen! Die bildfüllende Weintraube, auf der ein Tautropfen im Gegenlicht vor dunklem Hintergrund funkelt. Die Schweinsbratenkruste, auf der sich eine Sauerkrautlocke räkelt und das Fett verführerisch glänzt…

Allerdings kein Vorzug ohne Nachteile: Großaufnahmen bedingen einerseits eine geeignete Kamera-Optik (selbst gute Smartphones mit ihren unkomplizierten Allround-Optiken geben bei extremen Nahaufnahmen oft w.o.) und andererseits wird der Tiefenschärfebereich extrem seicht. Das heißt, dass Objekte, die sich unmittelbar vor und unmittelbar hinter dem scharfgestellten Gegenstand befinden, unscharf dargestellt werden. Diese Bilder haben eine ganz spezifische Ästhetik, die sich mit „normalen“ Großaufnahmen und schon gar nicht mit Halbnahen und Halbtotalen vergleichen lassen. Auch wenn die Bilder einzeln besehen überzeugen und perfekt sind, können sie im Ensemble mit Bildern totalerer Einstellungsgrößen deplatziert wirken. Gescheit ist es daher, die jeweils davor und danach gebauten Bilder in einer annähernd ähnlichen Ästhetik zu gestalten sodass der Übergang zu totaleren Bildern damit fließender und harmonischer wirkt.

Fazit

Die Einstellungsgrößen Halbnahe, Nahe und Großaufnahmen bringen emotionale und visuelle Würze in die Geschichten. Filme, in denen diese Einstellungsgrößen ikonische Wirkung entfaltet haben und damit im visuellen Gedächtnis der Menschheit erhalten geblieben sind, könnte man noch viele aufzählen.

Für Filmemacher:innen auch im Bereich der Gebrauchsvideos sind sie einerseits ein Segen, andererseits eine Verführung, der man leicht unterliegt. Eingehende Überlegung und Abwägung sind in diesem Zusammenhang wahrscheinlich eine gute Wahl. Oft gilt: „weniger ist mehr!“ Und wie heißt es so schön bei Paracelsus: „Die Dosis macht das Gift“.

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Christian Schrenk

Christian Schrenk ist Diener zweier Katzen und arbeitet seit seiner Jugend mit audiovisuellen Medien. Davon mehr als 30 Jahre für den ORF. Bildbedeutung und Bildwirkung sind seine Obsession. Er hat Film- und Drehbuchpreise sowie Preise für transdisziplinäre Projekte im Bereich Bildung, Kunst und Soziales erhalten und ist Träger der Kulturmedaille der Stadt Linz. Er hat die Hände gern in der Erde seines Gartens, betrachtet als Pilot aber auch die Welt von oben und erhält/restauriert klassische Fahrzeuge der 1960er und 1970er-Jahre.

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