Einstellungsgröße „Halbtotale“ - Ordnung und Beziehung
Die so genannte „Halbtotale“ ist wohl die häufigste Einstellung, die wir als Videofilmer benützen. Sie scheint uns so alltäglich und vertraut, dass wir sie so selbstverständlich benutzen; oft ohne uns über die wichtigen Leistungen und unterschwelligen Bedeutungen der Einstellungsgröße „Halbtotale“ Gedanken zu machen. Und oft ohne uns auch über die möglichen Stolperfallen bei der Anwendung dieser allzu alltäglichen Einstellungsgröße bewusst zu sein. Aber alles der Reihe nach.
Wovon reden wir denn überhaupt, wenn wir von einer „Halbtotalen“ sprechen? Sie ist jedenfalls eine Einstellungsgröße, die zwischen der „Totalen“ und der „Halbnahen“ liegt und die über die Protagonisten hinaus – seien das nun Personen oder Gegenstände – auch den engeren räumlichen Kontext der Handlung zeigt.
Die Halbtotale schafft Ordnung
Unser Publikum weiß, nachdem es in der Totalen als „Establishing Shot“ über die Basics wie Ort, Zeit, innen, außen, Tag, Nacht, Wetter, Klimazone, Weltgegend et c. informiert worden ist, wo wichtige Versatzstücke im näheren Umfeld der Handlung liegen. Türen, Fenster, Bäume, Zäune Caches ohne Information. Das Publikum ist also über die Topografie des näheren Umfelds informiert. Innenräume offenbaren dabei ja auch einen bestimmten Charakter, legen über das im Vergleich zur „Totalen“ wesentlich detailreicheren Bild auch die Stilistik dar. Denken wir etwa an die James Bond-Filme der 60er-Jahre, bei denen wir in der „Totale“ die weitläufige Kommandoplattform des bösen Dr. No sehen, für das sich Szenografen, Architekten und Set-Designer an futuristischer Vorstellungskraft förmlich überboten haben. In der Halbtotale sehen wir nun, dass er in einem Schalensessel sitzt, eine Katze am Schoß hat und eine Reihe von Kommandoknöpfen und Video-Bildschirmen in seiner unmittelbaren Reichweite hat, wenn er Sean Connery und Ursula Andress als Gefangene vor sich hat. Das hilft dem Publikum, die Situation zu erfassen und ihn gleich im ersten Augenblick als gefährlichen Ungustl einordnen zu können.
Die Halbtotale erklärt Beziehung
Schon aus der Anordnung der Personen – wenn wir schon bei den James-Bond Retro-Klassikern bleiben – kann das Publikum mit dem ersten Blick Beziehungsstrukturen erkennen. Hier 007 und seine Gespielin, dort der Feind. Unsere Helden immerhin zu zweit, wo man bekannter maßen weniger allein ist, der Bösewicht alleine, bestenfalls gestützt auf eine Menge anonymer Ameisen-Wusler oder mehr oder weniger ferngesteuerter humanoider Monster. Seine Position im Sitzen, die ihn (mit Katze am Schoß) dazu zwingt zu den beiden „Gefangenen“ aufzublicken gibt schon einen mehr als deutlichen Hinweis auf das Happy End für Bond und das böse Ende des Bösewichts. Die Halbtotale schafft also Erkenntnisse über die Beziehung der handelnden Menschen.
Wenn wir jetzt die Retro-Filmklassiker verlassen (die als Anschauungsmaterial für Bild-und Handlungsdramaturgie unschätzbaren Wert haben, weil sie so klar und eindeutig inszeniert sind), und zeitgenössische Erklärvideos oder Image-Videos betrachten, bietet uns die Halbtotale selbst in den nüchternsten Einstellungen nähere räumliche Information und Information zur Beziehung zwischen abgebildeten und interagierenden Menschen
Die Halbtotale offenbart Beziehungen
In Szenen, in denen die räumliche Anordnung der Charaktere zueinander oder zur Umgebung entscheidend ist, gibt die Halbtotale dem Publikum eine klare Orientierung. Ein Dialog zwischen zwei Protagonisten kann so nicht nur verbal, sondern auch räumlich nuanciert dargestellt werden. Denkt man die Halbtotale weiter, bekommen wir Gelegenheit, eine tiefere emotionale Bindung zwischen den Charakteren und dem Publikum herzustellen. Indem der Fokus auf den oberen Körperbereich der Darsteller gelegt wird, werden nonverbale Signale und Emotionen besser sichtbar. Das erleichtert bzw. begünstigt eine erwünschte Identifikation des Publikums mit den Protagonisten, was wiederum für die erwünschte emotionale Beteiligung des Publikums ausschlaggebend ist.
Die Halbtotale schafft Verständnis
Selbst unbelebte Gegenstände können bzw. sollten in der Halbtotalen in einer logischen Ordnung im Sinn funktionaler Abläufe oder technischer Abhängigkeiten dargestellt bzw. inszeniert werden. Also ganz trivial als Beispiel: Hier Steckdose – da Kabel – da Maschine. Ein sinnfälliger Ablauf und unser Publikum kapiert auf den ersten Blick, wie die Sache funktionieren wird. Oder: Hier wird das Rohprodukt hineingegeben – hier „black Box-Maschine“ deren jetzt noch verborgene Funktionsweise später mit Großaufnahmen erklärt wird – und hier: tadaaaa!: das Ergebnis.
Die Halbtotale gibt uns Zeit
Im Gegensatz zur „Totalen“ oder zu Großaufnahmen, deren Einsatz – abgesehen von besonderen Gestaltungsintentionen in Spielfilmen – oft nur kurz dauert, gibt uns die Halbtotale die Gelegenheit, längere, auch bewegte Einstellungen in unseren Alltagsvideos einzusetzen. So können technische Abläufe oder Spielhandlungen zwischen Personen oder schlicht Kochvideos handwerkliche Tätigkeiten leicht verständlich vermittelt werden. Das bringt Ruhe und Entspannung in das Video und fungiert, ganz im Sinn von Innovation und Redundanz als filmisches Gestaltungsmittel, das sicherstellt, dass unser Publikum besser behält, worum es geht und wie z. B. etwas gemacht wird. Natürlich unterstützen sogenannte Zwischenschnitte mit Detailaufnahmen das Verständnis. Das behandelt dann eines der nächsten Kapitel. Gerade in Produktvideos, bei denen die Handhabung des Produkts vermittelt werden soll, sorgt die Halbtotale für eine lebendigere, weil verständlichere und authentischere Darstellung des Geschehens.
Die Halbtotale ermöglicht Action
Und jetzt denken wir einmal an Action-Szenen, Kämpfe und Schlägereien. Da hilft nur die Halbtotale um den Überblick zu behalten, das Wer gegen Wen zu dokumentieren, die Kampfhandlung schlüssig zu verfolgen sowie die Chancen der Protagonisten zu antizipieren. Alles natürlich gewürzt mit eingestreuten Nahaufnahmen wenn Nasenbeine knirschen, Kinnladen zertrümmert werden und sich Stöhngeräusche sowie ausgeschlagene Zähne aus den Mündern der Kombattanten quälen. Schließlich müssen die Stunts ja choreografiert werden und eine im Film echt wirkende Kampfszene ist nicht in Echtzeit filmbar.
Was wären die übermenschlichen Karate-Helden, die ihre atemberaubenden Kampf-Salti springen und Kohorten von Bösewichten in üppigen Kampftableaus aufs Kreuz legen ohne Halbtotale? Das gesamte Genre der Action-Filme und die legendären Karate-Filme eines Bruce Lee leb(t)en vom gekonnten Einsatz der Halbtotalen und schaffen Identifikation mit Helden oder Antihelden. Und gerade das bestimmt die emotionale Beteiligung des Publikums.
Nun werden Kampfszenen in Videos, die unseren Arbeits- und Gestaltungsalltag kaum an der Tagesordnung stehen, aber wir können uns bei den trivialsten Tätigkeiten, die wir zu vermitteln haben, ein Beispiel an den Choreografien der Hollywood-Produktionen nehmen, weil diese keine Chance vergeben, unsere Emotionen zu steuern und alleine mit der Bildsprache schon eine Vorahnung geben, wie die Sache schlussendlich ausgeht.
Die Halbtotale in der Praxis
Wie integriere ich nun die Halbtotale effektiv in meine Arbeit? Unbewusst wird die Halbtotale ja ohnehin quasi als Standard und in der Reportage oft automatisch und ohne viel nachzudenken verwendet. Bei Videos, die nach Drehbuch gedreht werden, wäre es aber wichtig, sich schon beim Schreiben des Buchs die vielfältigen Qualitäten der Halbtotalen in Erinnerung zu rufen und sie dann auch entsprechend zielführend einzusetzen. Also etwa bei der Inszenierung einer Schlüsselszene, in der zwei Charaktere miteinander konfrontiert sind. Die Halbtotale ermöglicht es, beide Figuren im Fokus zu halten, ihre Mimik und Gestik einzufangen, während die Umgebung den kontextuellen Hintergrund bietet. Hinzu kommt, dass du ja auch schon beim Verfassen des Drehbuchs Handlungsachsen und Handlungsrichtungen sowie die Hauptbildfenster mit ihren jeweiligen Bedeutungsebenen berücksichtigen und zielführend einsetzen kannst. Dann eignet sich die Halbtotale nicht nur als hervorragendes Vehikel um die Dynamik zwischen den Figuren sichtbar zu machen, sondern du kannst durch den Einsatz der subtilen Signale ans Unbewusste deines Publikums der Handlung des Videos auch auf der Meta-Ebene jenen Bias geben, der dein Publikum in die von dir gewünschte Richtung führt.
Die Halbtotale und der Achsensprung als Stolperfalle
Gerade weil du in der Halbtotale relativ viel Information über den Ort der Handlung und das Umfeld sowie räumliche Orientierung schaffst, solltest du sehr genau darauf achten, die Handlungsachsen wenn schon, dann nur kontrolliert zu wechseln.
Was bedeutet das? Ganz einfach: du hast zwei Personen, die miteinander sprechen. Person A spricht von rechts nach links, Person B von links nach rechts. Achte also darauf, dass diese Ordnung durchgängig erhalten bleibt, weil sich sonst für das Publikum eine Irritation ergibt, wenn eine Person plötzlich aus der „falschen“ Richtung spricht. Wenn es dramaturgisch nötig oder sinnvoll ist, die Achse zu wechseln, kannst du bei Dialogen etwa die Kamera in einem Halbkreis um die Gesprächspartner herumbewegen. Oder, du filmst in der Einstellung vor dem Achsenwechsel zum Beispiel über die Schulter von Person B frontal auf das Gesicht von Person A und wechselst mit der nächsten Einstellung über die Achse. Dann wird es nicht mehr als Irritation empfunden, wenn plötzlich Person A von links nach rechts spricht.
Dasselbe gilt bei Umzügen oder Demos, Prozessionen, Rennen oder Verfolgungsjagden. In diesem Fall wird durch die Dynamik ein Achsensprung umso mehr als Irritation erlebt, weil plötzlich mit dem nächsten Schnitt die Marschierenden oder Laufenden aufeinander zugehen und in den Köpfen des Publikums unbewusst eine Konfrontation stattfindet. Unser Gehirn also erwartet, dass die Musikkapellen oder die Rennautos gleich frontal zusammenstoßen. Auch hier lässt sich der Achsensprung durch eine kontinuierliche Kamerabewegung auf die andere Handlungsachse oder durch eine frontale Einstellung auf die Marschierenden/Laufenden entschärfen. Und nachdem es ja in der Regel unser Ziel sein sollte, unseren Zuschauer:innen ein möglichst nahtloses und beeindruckendes Seherlebnis zu ermöglichen, sollten wir sehr sorgfältig auf die visuelle Kontinuität achten.
Die Halbtotale in cineastischen Meisterwerken
Es ist überhaupt keine Schande, sich als film- und videoschaffender Mensch an großen Vorbildern zu orientieren. Gerade durch bewusstes Hinschauen kann man entdecken, wie geniale Filmregisseure die Halbtotale einsetzen. Ein Beispiel ist Alfred Hitchcocks „Vertigo“. In den intensiven Momenten des Films, in denen die Charaktere ihren Ängsten gegenüberstehen, wird die Halbtotale geschickt eingesetzt, um die Spannung zu steigern und gleichzeitig die Umgebung mit einzubeziehen.
Die überraschenden und teils wahnwitzig absurden Wendungen in „Pulp Fiction“ von Quentin Tarantino nehmen in Halbtotalen ihren Ausgang. Denk nur an die Szene, in der die beiden männlichen Protagonisten dem Geballer eines WG-Bewohners entgehen und angesichts der Kugeleinschläge in der Wand göttliches Wirken zu erfahren glauben oder in der Restaurant-Szene in der sie die Machtverhältnisse im Verlauf des dilettantischen Raubüberfalls des Pärchens umkehren.
Die Halbtotale als Ausgangspunkt für Cliffhanger
Dass überraschende Wendungen schon alleine aus Gründen der Übersichtlichkeit fast zwingend aus Halbtotalen ausgehen, haben wir soeben besprochen. Und wir kennen mittlerweile auch schon die Bedeutung von Anfangs- und Schlussstereotypen. Also: dass wir mit einer Besetzung des rechten Bildrandes ohne Information das Publikum rein visuell auf das Ende einer Szene oder Sequenz vorbereiten können. Beenden wir eine Sequenz allerdings _ohne_ das Publikum darauf vorbereitet zu haben, entsteht eine Spannung, die stutzig macht und zum Nachdenken anregen kann. In diesem Fall sprechen wir von einem Cliffhanger. Es bleibt eine Frage ungelöst Unbewussten des Publikums, das jetzt auf eine Auflösung dieser Frage (im Idealfall umsonst) wartet. Auch diesbezüglich sind die Filme von Quentin Tarantino eine Fundgrube und lohnende Studienobjekte.
Fazit: Die Halbtotale als kreatives Werkzeug
Gerade weil sie so selbstverständlich und so unprätentiös daherkommt, wird die Halbtotale als Gestaltungsmittel und kreatives Werkzeug vielfach unterschätzt. So simpel sie rein technisch zu handhaben ist, kann sie – sofern wir sie richtig einsetzen – eine beachtliche Palette an dramaturgischen Bedeutungsebenen schaffen und zielgerichtetes Storytelling unterstützen. Einen kleinen Streifzug zu den Möglichkeiten, die diese Einstellungsgröße in sich birgt, haben wir jetzt gerade unternommen.
Vielleicht ist es ganz nützlich, sich auch im Stress der Dreharbeiten und deren Vorbereitung immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass die Halbtotale nicht nur eine Einstellungsgröße ist; sie ist ein kreatives Werkzeug, das Raum schafft, Orientierung bietet, Beziehungen offenlegt und Identifikation mit den Hauptfiguren unterstützt. Für Film- und Videomacher sollte es wichtig sein, die Vielseitigkeit dieser Einstellung zu erkennen und sie bewusst in für das Storytelling zu nützen. Sie kann ein leistungsstarkes Instrument sein, um Geschichten mit unbewussten Signalen und Informationen zu bereichern und das Publikum so an die Handlung zu fesseln, damit unsere Botschaften auch an die richtige Adresse gelangen.